WG75 – zwei Briefentwürfe und eine Briefreinschrift an Alma Mahler
Neubabelsberg, Mittwoch, 21. September 1910

[Briefentwurf I]

Deine Briefe geben den Schwung
die Begeisterung, sie machen die
Einsamkeit erträglich. es sind
meine Feierstunden, um derent-
willen ich die anderen durchlaufe

_______
Tristans Schwert zw. uns.

_____
wie war [!] ist es was Du in einem
anderen Augenblick ernst sagtest,
Worte müssen erlebt sein.
ich bin in versunken
Wie soll ich Dir je mit Dank
abtragen, was Du mir mit Deiner
Liebe schenkst.

103.85 M

Ist es Dir nicht auch als ob
wir uns seit Jahren kennen

 Du herzallerliebster Schatz.

 Nun schließen sich wieder alle
Wunden, ich habe gejauchzt über
Deinen süßen, wonnigen Brief
Nun bist Du wieder meine
hingebende Geliebte, nun darf
ich \Dich/ wieder ganz spüren Deine
Seele und auch den holden
Erdenrest, Deine geliebte Mensch-
lichkeit. Du Liebes##, wenn
Du wüßtest, wie schön Du vor
meiner Seele stehst in einem
verklärten Glanze, es kann
keine andere größere Schönheit
mehr für mich geben.

[am Rand notiert:] Fr.
                              

Ich weiß, daß Du allens guten, edlen
und fruchtbaren in mir empor-
führen wirst. Wie soll ich Dir
danken je im Leben für Deine
überreichen Geschenke?

 Wie wunderbar du mich ver-
stehst, \fühlst/ was ich brauche, wonach
mich sehne ersehne

 Daß ich außer Deiner Helden-
seele auch den holden Erdenrest

 wieder spüren darf
Endlich kann mich wieder die
ganze Wonne durchrieseln

 Das sind die Worte nach
denen meine Seele schrie

 bleibe mir so wonnig-hold
so menschlich – göttlich, wie Du
es bist, dann wird mir nie
bange sein

.

Mehr u mehr gelten die Worte, die
ich Dir einst in den
schrieb, liebe dieses Buch, lies
es u denke an Deinen Geliebten

bis die Erlösung naht



[Briefentwurf II]

Mittwoch, 21.9.10

Mein Lebensglück,
zum erstenmale saß ich wieder über meine
versunken – da kam Dein Brief!
Auf den Knien bin ich vor Dir gelegen, Du Weisheit
und habe dankerfüllt zu Dir aufgeschaut.
Ich komme \strebe/ Dir nach \u immer nach/, Geliebte jeder Tag
wird ein neues Werben um Dich \bis mir Erlösung naht/ – Du spendest \gabst/
dem Lebensdocht wieder neue Nahrung – schon
fühle ich junges, schöneres Leben \seh ich/ aus \meinen unseren/ Schmerzen
erblühen; und der Genesene segnet \ja/ die Krankheit
und geht beherzter, furchtloser ins Leben zu-
rück. Das Schicksal schlägt ohne Gnade die
schwachen und unnützen Triebe vom Stamme
ab! \daß ja das richtige alles verflüchtige/ Wieviel reifer und älter bin ich in diesen
Tagen geworden Wir sind unendlich reicher
\sind wir schon/ geworden – \Geliebte und müssen weiter wachsen und unser heiliges Feuer ###/ was wir zusammen erleben, Geliebte
ist \ja/ das alles aller\größte/ höchste, was Menschenseelen
begegnen kann. Es ist Eine Feierlichkeit \ist/ in mir,
Worte Bewegungen, Handlungen, und Worte
haben etwas \werden/ getragener; muß ich nicht an
Deiner Seite zum pater ecstaticus werden an
Deiner Seite, die Du \um Deiner auserwählten Mission zufolge/
ohne zu klagen \Du übermenschliche Opfer bringst/. Meine , Gott schütze
Dich, daß Du Deine schweren Leiden erträgst und \und/
Du ein gesunder Mensch bleibst. Sprich mit mir

über Deine Leiden. Ich habe den heißen Wunsch, Dir
auch als Freund und Ratgeber \Vertrauter/ etwas sein zu dürfen
ich wachse mit dem größeren Zwecke, so \da/ kannst
dann \Du/ Wunder an mir erleben. Es erquickt mich
ja Dich zu trösten, ich liebe ja doch \auch/ den Erden
rest, Deine süße Menschlichkeit.
Wieviel älter u reifer bin ich geworden, \Du hast/ meine Augen
taten sich auf entschleiert – ich muß Dir weiter
folgen ich weiter vertrauensvoll weiter; jedes
Wort, das Du mir \künftig/ schenken wirst, wandelt sich
\um zu Leben/ in mir. Arbeit-Kunst, ich will
schaffen, Arbeit ist der letzten Weisheit Schluß.
Mehr u mehr gelten die Worte, die ich Dir einst
in den schrieb; liebe dies Buch,
lies es und hoffe und denke an Deinen
                                  Geliebten

[Briefreinschrift]

Mittwoch. 21.9.10.

Du mein Lebensglück,

zum erstenmale wieder saß ich über mein
versunken – da kam Dein Brief.
Du Weisheit! auf den Knien bin ich vor Dir
gelegen und habe dankerfüllt zu Dir aufgeschaut.
Du spendest dem Lebensdocht wieder neue
Nahrung – Der Genesene segnet die Krankheit
und geht beherzter, furchtloser ins Leben zu-
rück. Wir sind unendlich reicher geworden –
was wir zusammen erleben, Geliebte, ist
das allerhöchste, größte für Menschenseelen.


Apparat

Überlieferung

, , , , , , , , , .

Quellenbeschreibung

5 Bl. (6 b. S.) – Briefentwurf I: Notizblock, abgetrenntes, oberes Viertel des Blattes (); Briefentwurf II und Briefreinschrift: Briefpapier ohne Aufdruck, Tinte (, und ).

Druck

, S. 103 (Auszüge), , S. 1030 (längerer Auszug des Briefentwurfs II in engl. Übersetzung).

Korrespondenzstellen

Antwort auf AM35 vom 19. September 1910 (Und Du musst schaffen! Nur einen Urschaffenden kann und will ich lieben!): Arbeit-Kunst, ich will schaffen, Arbeit ist der letzten Weisheit Schluß. Beantwortet durch AM37 vom 23. September 1910 (Bin ein bissel verkühlt, wie jetzt alle Welt – sonst geht’s mir aber gut – besser denn je): Gott schütze Dich, daß Du Deine schweren Leiden erträgst und \und/ Du ein gesunder Mensch bleibst.

Datierung

Datierung WG: Mittwoch. 21.9.10.

WG75 zeigt drei Entwurfsphasen eines Briefes sowie eine starke inhaltliche Nähe zu WG74. Der Briefentwurf I in Bleistift findet sich fast wortgenau im Briefentwurf II in Tinte wieder und kann damit als Vorstufe verstanden werden. Der Briefentwurf II in Tinte stellte wahrscheinlich eine erste Reinschrift des geplanten Briefes dar, an der WG jedoch so viele Änderungen, Durchstreichungen etc. vornahm, dass sie mehr Briefentwurf denn saubere Reinschrift darstellte, weshalb dann wohl auf der Verso-Seite des letzten Blattes ein neuer Versuch begonnen wurde, der jedoch aufgrund von etlichen Korrekturen wiederum als Entwurf verstanden werden muss.

Übertragung/Mitarbeit


(Bettina Schuster)


A

Deine Briefe – nach Ankunft von AM35 vom 19. September 1910 verfasst.

B

103.85 M – Arbeitsnotizen.

C

Shakespeare – vgl. WG74 vom 17. oder 18. September 1910: Shakespeare […] Sonette.

D

BriefAM35 vom 19. September 1910.

E

wirst – durchgestrichenes Wort durch Unterpunktung von reaktiviert.

F

Du mein Lebensglück – Der hier beginnende Text des Blattes wurde mit einem großen X durchgestrichen. Möglicherweise war diese dritte Seite der Anfang einer Briefreinschrift, die aufgrund von Schreibfehlern abgebrochen wurde.

G

BriefAM35 vom 19. September 1910.